Falls Du Dich wunderst, daß die Chronologie unserer Klubzeitschrift in verkehrter Reihenfolge ist, so hat das den einfachen Grund, daß am Anfang der Seite die jeweils aktuellsten Berichte stehen sollen, um ein langes Blättern zu vermeiden.
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Aus "EXIL" oder "DER BRAUNE SALON" von Helmut Eisendle - Residenzverlag Salzburg 1977
Es ist immer der selbe Fehler: das zu starke Spiel. Staudenmaier hält in einer Hand den Queue, während er, an den Spieltisch gelehnt, Kaßner beobachtet.
Die Beobachtung gestattet mehr an Übersicht. Im Spiel selbst verliert sich der Überblick an die Konzentration. Trotz dieser, trotz der Optimierung der Sinne im Hinblick auf das Geschehen, ist der Spieler dem zuschauer unterlegen. Die Unfähigkeit, im Spiel, in der Aktion den Überblick zu bewahren, macht den Verlierer aus, doch der Beobachter verliert nie. Er ist der fiktive Sieger, denn er konzentriert sich auf die Fehler, nicht aber wie der Spieler auf das Gelingen. In dieser seltsamen Rollenaufteilung ähneln sich die meisten Spiele, ob Schach, Tarock oder Billard.
Einige Variablen bestimmen den Lauf der Kugel, fährt Staudenmaier fort, und obwohl es nur wenige sind, ist das Resultat schwer einzuschätzen. Ein Fehler ist: Von zehn Bällen spielt man neun zu kräftig.
Ich weiß, sagt Kaßner und stößt den Queue kräftig nach vorne.
Zu stark, kommentiert Staudenmaier.
Der Ball läuft über das Billard, berührt halb den roten, wird zur Bande abgelenkt, kehrt schräg zurück, trifft leicht den weißen und bleibt in dessen unmittelbaren Nähe stehen.
Doch, ein schöner Stoß, sagt Staudenmaier und klopft mit dem Queue auf den Boden, sanft und weich wie ein Flügelschlag.
Eben, Ludwig, eben, ich habe ihn unten gespielt.
Du hast ziemlich stark gestoßen.
Gebremst, gebremst.
Man hätte den selben Stoß sanft machen können.
Natürlich muß ein starker Stoß gebremst werden.
Es ist eigenartig, man ist immer versucht, es mit der Kraft zu machen. Wenn man es geschafft hat, ich meine, wenn ein Stoß gelungen ist, verliert sich jede Analyse.
Die Kraft ist das Übel, Rudolf. Billard ist ein sanftes Spiel. Die Stellung der Bälle ist nichts anderes als der Stoß. Die Stellung ist der Stoß an sich, sein Produkt. Aus ihm, aus seinen Merkmalen, Indizien bestimmt sich der Lauf, die Position der Bälle. Der Spieler ist die Variable.
Billard, mein Lieber, heißt, eine Entscheidung auf lange Sicht treffen, heißt Prognosen stellen, Voraussagen machen. Darin liegt die Meisterschaft.
Die letzten Zentimeter eines Balles sind unberechenbar. Das bedeutet einerseits, daß man lange Läufe vermeiden soll, andererseits, daß man sanft spielt, spielen muß. Näherungen, Näherungen sind möglich.
Sicher, ein kurzer Lauf läßt eher Voraussagen zu. Trotzdem gibt es Positionen, denen man ausgeliefert ist. Dann bleibt nur der Zufallsstoß.
Den lehnt der gute Spieler ab.
Nein, sagen wir so, der gute Spieler macht ihn nicht, er hat auch in der schwierigsten Stellung Hypothesen über den möglichen Lauf. Auch wenn der Ball über drei, vier oder mehr Banden läuft, weiß er ungefähr, was geschehen wird.
Mit jedem gespielten Ball werden Hypothesen verifiziert oder falsifiziert. Die Summe dieser Entscheidungen nennt man Erfahrungen.
Die Bälle liegen in einer Linie im ersten Drittel des Tisches. Kaßner überlegt, geht um den Tisch herum, setzt an, zielt sorgfältig und stößt den Ball sanft auf die Bande zu.
Effet, ruft Staudenmaier, mehr Rechtseffet. Den Ball, wenn du ihn tatsächlich als Vorbänder spielen willst, mußt du scharf drehen, damit er über die zweite Bande zum roten läuft.
Blödsinn, sagt Kaßner. Du bist an der Reihe.
Die Theorie ist eine der Blüten der Praxis und nicht deren Wurzel, wie man immer annimmt.
Blüten wohl in der Doppelsinnigkeit, oder ?
Sicher.
Staudenmaier zielt, nimmt den Ball hoch mit leichtem Linkseffet, trifft, doch der Stoß ist zu hart, so daß der Queueball in die gegenüberliegende Ecke läuft.
Das war der gleiche Fehler, das zu starke Spiel.
Das Billardspiel gestattet durch seine erzwungenen Pausen, in denen ein Spieler den anderen ablöst, Sprache, ein Gespräch, das mehr ist als Kommentar. Billard fördert die Sprache, das Sprechen, das Denken und verführt den Wartenden zu kurzen, intensiven Gedankengängen, zum Nachsinnen und zum Anekdotismus, einer Art des Redens und Interagierens, die jenseits der Realität des Spiels parallel zu ihm und doch unabhängig davon abläuft. Ist der Erzähler an der Reihe, verlangt das Spiel, der Stoß dessen ganze Konzentration und beendet dadurch den Gedanken, der ihn noch in der Pause kurz davor beherrscht hat.